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Der persische Philosoph

Wie ein Samenkorn muss auch die Liebe wachsen und gepflegt werden. Die Geschichte eines Ehepaares zeigt, dass die Liebe in der gegenseitigen Annahme und dem Wachsen miteinander ihre Erfüllung findet.

“Ich habe heute eine Geschichte gehört, die muss ich dir unbedingt erzählen.”

Sie hebt die Augenbrauen. “Da bin ich sehr gespannt…”

Er lächelt. Dann beginnt er zu erzählen:

Ein alter persischer Philosoph trinkt Tee, als ein Freund zu Besuch kommt. “Ich werde bald heiraten!”, sagt der Freund. “Ich bin sehr aufgeregt!”

Dann fragt er den Philosophen: “Hast du schon mal daran gedacht, selbst zu heiraten?”

Der Philosoph nickt: “Als ich jünger war. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach. Ich wollte unbedingt heiraten, aber ich beschloss, es müsse die perfekte Frau sein. Also suchte ich sie. Ich bin weit gereist und habe viel gesehen. Und eines Tages fand ich sie. Sie war ein wunderschönes Geschöpf mit einem brillanten Verstand.”

“Und… spann mich nicht auf die Folter. Hast du sie geheiratet?”

Traurig schüttelt der Philosoph den Kopf. “Leider nicht. Sie hat nach dem perfekten Mann gesucht.”

Sie lacht. “Das ist ja traurig! Der arme Mann.”

“Traurig?” Er runzelt die Stirn. “Ich finde es eher ironisch. Er suchte die Perfektion und verpasste dadurch sein Glück.”

“Vielleicht hatte er aber recht,” entgegnet sie und nimmt einen Schluck Wasser. “Warum sollte man sich mit weniger zufriedengeben?“

„Weil es keine Perfektion gibt.“ Er lehnt sich vor. „Das ist doch der Punkt der Geschichte.”

Sie schüttelt den Kopf. “Du verstehst es nicht. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Kompromisse. Manche Menschen geben zu schnell auf, ohne wirklich zu kämpfen.”

“Zu kämpfen?” Er lacht auf. “Beziehungen sollten kein Kampf sein.”

“Aber das sind sie manchmal!” Sie lehnt sich vor. “Jede gute Beziehung erfordert Arbeit. Man muss durch die schwierigen Zeiten gehen, um die guten zu erreichen.”

Er schüttelt den Kopf. “Ich glaube, du interpretierst zu viel in eine einfache Geschichte hinein.”

“Und ich glaube, du siehst nicht, was direkt vor deiner Nase liegt.” Ihre Stimme wird etwas lauter. Die Leute am Nebentisch schauen kurz herüber.

Der Kellner nähert sich vorsichtig. “Möchten Sie bestellen?”

Beinahe erleichtert geben sie ihre Bestellung auf. Als er gegangen ist, sitzen sie schweigend beieinander. Beide spielen mit ihren Servietten, vermeiden Blickkontakt.

Schließlich räuspert er sich. “Ich glaube, wir beide übersehen etwas an der Geschichte.”

Sie hebt langsam den Kopf. Die Anspannung der letzten Minuten liegt noch in der Luft, aber in seinen Augen sieht sie etwas Versöhnliches. “Und was?”

“Der Philosoph hat die perfekte Frau gefunden - aber er hat nie mit ihr gesprochen. Er hat nie herausgefunden, ob sie wirklich nach dem perfekten Mann suchte oder ob sie vielleicht… kompromissbereit war.”

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. “Du meinst, er hat aufgegeben, bevor er es überhaupt versucht hat?”

“Genau.” Auch er lächelt. “Manchmal sind wir zu schnell dabei, unsere eigenen Annahmen zu treffen. Über andere… und übereinander.”

Er lehnt sich zurück, sie nimmt einen Schluck Wasser, hält seinen Blick dabei fest, ein leichtes Lächeln um ihre Lippen. Dann nickt sie. “Ich hab heute auch was erlebt, das muss ich dir erzählen…”

Sie unterbrechen ihre Unterhaltung erst, als das Essen serviert wird. Während sie den ersten Bissen nehmen, beobachtet sie, wie seine Hände leicht zittern.

“Du wirst nicht etwa sentimentaler mit dem Alter?” sagt sie lächelnd.

“Ich?” Er tut überrascht. “Niemals.”

“Du bist derjenige, der darauf bestanden hat, genau hier zu feiern. An genau diesem Tag.”

Er zuckt mit den Schultern. “Der Hafenblick hat gutes Essen.”

Sie legt ihre Gabel beiseite. “Und es hat überhaupt nichts damit zu tun, dass wir vor vierzig Jahren genau an diesem Tisch saßen und du mir damals diese Geschichte von diesem persischen Philosophen erzählt hast?”

“Vielleicht ein bisschen.” Seine Augen werden feucht. “Weißt du noch, was ich damals zu dir gesagt habe?”

“Natürlich weiß ich das. Du hast gesagt: Ich suche keine perfekte Frau. Ich suche die richtige.”

Sie lächelt.

“Und ich habe geantwortet: Du bist für mich der Richtige!”

Sie greift nach seiner Hand auf dem Tisch.

“Vierzig Jahre - und ich würde alles genauso wieder machen.”

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