Zum Inhalt springen

Das Spiel des Lebens

Eine moderne Parabel über die subtile Natur der Versuchung, deren grundlegende Verhaltensmuster sich seit dem Sündenfall nicht verändert haben.

Der Zylinder

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Zylinder, hochfeiner Zylinder aus dem ehrwürdigen Spiel Monopoly, Jahrgang 1935. (gedämpftes Räuspern) DER Zylinder, wie mich mancher ehrfurchtsvoll nennt.

Nach mir wird stets als erstes gegriffen. (samtweich) Ich sage das nicht ohne Stolz. Denn seien wir ehrlich: Neben mir wirken der Fingerhut und der Schuh doch reichlich… nun ja, nennen wir es bodenständig. Und der Rennwagen? (gedehnt und abschätzig) Ach… es sind die ewig Kind Gebliebenen, die nach ihm greifen.

In meinen beinahe neunzig Jahren habe ich sie alle gesehen: Die Ehrgeizigen mit ihren brennenden Augen. Die Machthungrigen mit ihren zitternden Händen. Die, die über Leichen gehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und - ah, meine besonderen Lieblinge - die Selbstgerechten mit ihrem scheinheiligen Lächeln.

(genüsslich) Ich “liebe” sie geradezu. Sie sind so wunderbar… unterhaltsam. Sie greifen nach mir mit dieser ganz speziellen Mischung aus Ehrfurcht und Entschlossenheit - als würden sie ahnen, was ich für sie bereithalte.

“Der Zylinder bringt Glück”, flüstern sie, während ihre Finger über mein poliertes Metall gleiten. (amüsiert) Wenn sie wüssten…

Aber lassen Sie mich von meiner eigentlichen Berufung erzählen. (verschwörerisch) Sehen Sie, offiziell bin ich nur eine simple Spielfigur. Inoffiziell… nun, sagen wir, ich habe einen gewissen Einfluss auf die Dynamik des Spiels. Oh, nicht auf die Würfel, natürlich nicht - (scheinheilig) das wäre ja Betrug! Nein, mein besonderes Talent liegt im… hmm, sagen wir, (genüssliche Pause) behutsamen Nähren der Selbstliebe.

Nehmen Sie nur gestern Abend… Eine scheinbar gewöhnliche Familienrunde: Vater, Mutter, zwei Kinder beim harmonischen Spieleabend. Der Vater greift nach mir. Seine Augen glänzen bereits, als er verkündet: “Der Zylinder passt zu mir. Ich hab heute nämlich Großes vor!”

“Ha”, denke ich und kann ein Lächeln nicht verkneifen, “ich auch!”

Seine Tochter Sarah verdreht die Augen. “Papa, es ist nur ein Spiel.”

Nur ein Spiel! (leises Lachen) Wie oft höre ich diesen Satz. Dabei ist es niemals nur ein Spiel. Es ist eine Gelegenheit. Eine Chance. Eine… nun ja, sagen wir… Einladung, sich selbst zur Hauptfigur zu machen.

Der Vater gewinnt an diesem Abend. Und wie er gewinnt! Seine Hotels verschlingen ein Grundstück nach dem anderen, wie hungrige Raubtiere auf der Jagd. Als seine Frau schließlich vorschlägt, der kleinen Sarah etwas Spielgeld zu leihen - das Mädchen steht zitternd vor dem Bankrott - da lehnt er sich mit dem Selbstbewusstsein eines Eroberers zurück.

“Jeder ist seines Glückes Schmied”, sagt er mit diesem neuen, selbstgefälligen Lächeln. “Das muss sie früh genug lernen.”

Klink - ein perfekter Moment!

Seine Worte hallen noch nach, als ich später elegant und mit einem süffisanten Lächeln in meine Schachtel zurückgleite. Die kleine Sarah wird diese Nacht weinend einschlafen. Und ihr Vater? Er wird zum ersten Mal von größeren Spielen träumen…

Sehen Sie… (beinahe zärtlich) manchmal braucht es erstaunlich wenig, um die feinen Risse in einer Seele zu erweitern. Ein Moment des Triumphs hier, ein Hauch von Macht dort - und schon wird das Herz enger und enger, bis… (leises, wissendes Lachen) aber ich will nicht vorgreifen.

Genug von dieser kleinen Kostprobe. Lassen Sie mich Ihnen von einigen meiner… hmm… bemerkenswertesten “Klienten” erzählen.

Sie werden staunen, was ein unscheinbarer Zylinder so alles bewirken kann…

Vom Spieler zum Gespielten

Ah, Thomas Miller… (nostalgisch) Eine meiner liebsten Erinnerungen. Jahrgang 1927, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen. Ich lernte ihn 1962 kennen, als seine Tante ihm zum 35. Geburtstag ein Monopoly-Spiel schenkte. “Damit du dich von der Arbeit entspannen kannst”, sagte sie mit dieser rührenden Naivität.

Entspannung! (spöttisches Lachen)

Als ob Thomas jemals verstanden hätte, was das Wort bedeutet. Er war damals ein kleiner Angestellter in einer Versicherung - einer dieser… hungrigen Typen. Rastlos. Verbissen. Der perfekte Kandidat für meine… nun ja, nennen wir es Führung.

Gleich in der ersten Runde griff er nach mir. Seine Finger zitterten leicht, als er mich auf das Startfeld setzte. Dieses Zittern… ah, wie gut ich es kenne. Es ist die erste Andeutung von… (samtweich) Potenzial.

“Der Zylinder”, sagt er andächtig, “steht für Klasse.” Seine Frau Martha lächelt nachsichtig.

(leise lachend) Die gute Martha… sie ahnt nicht, dass ihr Mann in diesem Moment einen Pakt schließt. Oh, nicht mit mir, natürlich - ich bin ja nur eine harmlose Spielfigur. Nein, er schließt ihn mit seinem Ego. Seinem Stolz. Seiner… wachsenden Selbstliebe.

In den folgenden Monaten entwickelt sich ein… reizvolles Ritual. Thomas kommt von der Arbeit nach Hause, schlingt hastig sein Abendessen hinunter und setzt sich dann an den Spieltisch. “Nur eine Runde”, sagt er immer mit diesem… überzeugenden Lächeln.

Aus einer werden zwei, aus zweien drei. Martha geht irgendwann schlafen. Thomas bleibt. Mit sich selbst. Mit mir. Mit seinem wachsenden Hunger.

Er gewinnt. Immer öfter. Seine Strategie wird schärfer, sein Blick… kälter. “Man muss an sich glauben”, erklärt er seinem kleinen Sohn Frank mit dieser neuen, metallischen Stimme. “Nur wer sich selbst vertraut, kommt nach oben.”

Der kleine Frank nickt ernst. Er ist sieben und versteht noch nicht, dass sein Vater längst nicht mehr über Monopoly spricht. Aber ich… ich verstehe.

1965 kündigt Thomas seinen Job. “Ich mache mich selbständig”, verkündet er beim Abendessen, während seine Finger unbewusst über meine polierte Oberfläche gleiten. Martha wird blass. “Aber was ist mit der Gemeinde?”, flüstert sie. “Mit deinem Dienst in der Suppenküche?”

Ah, dieser Moment… Thomas’ Mundwinkel zucken nach oben, eine langsame, geschmeidige Bewegung. Dieses neue Lächeln - ich kenne es so gut. Nicht mehr das warme Strahlen von früher. Nein… (gedehnt) kalt und selbstzufrieden wie ein satter Kater, der gerade einen Singvogel verschlungen hat.

Martha erstarrt. (sanft) In ihren Augen sehe ich diese besondere Art von Entsetzen - wenn man plötzlich einen Fremden im Gesicht des Menschen erkennt, den man zu kennen glaubte. Sie sieht die Verwandlung. Die Kälte. Den… Hunger. Zum ersten Mal sieht sie es wirklich.

(amüsiert) Und ich? Ich sehe, wie sich ihre Finger unbewusst um das kleine Holzkreuz an ihrer Kette schließen.

Die nächsten Jahre sind… (genüsslich) nun, nennen wir es spektakulär. Thomas entwickelt ein geradezu übernatürliches Gespür für unterbewertete Immobilien. Er kauft. Verkauft. Kauft mehr. Seine Geschäfte werden größer, sein Herz… (bedeutungsvoll) wird kleiner. Das Monopoly-Spiel verstaubt in der Ecke. Er braucht es nicht mehr. Das echte Spiel hat längst begonnen.

1975 zieht die Familie in eine Villa um. Martha weint beim Einzug. Nicht vor Freude, oh nein… “Du hast dich so verändert”, flüstert sie mit dieser rührenden Verzweiflung in der Stimme. “Früher haben wir zusammen in der Bibel gelesen…”

“Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun”, unterbricht er sie barsch. Seine Schritte hallen durch den Marmor-Flur, als er in seinem Arbeitszimmer verschwindet. Dort steht ein Tresor. Ein massiver Safe aus deutschem Stahl. Das Monopoly-Spiel - und ich - kommen hinein. “Zur Erinnerung”, sagt er, während das schwere Schloss einrastet.

Zur Erinnerung!

Als ob er je vergessen könnte, wo alles begann. Bei einer harmlosen Runde Monopoly, mit einer unscheinbaren Spielfigur, die aussah wie ein Zylinder und flüsterte wie eine Schlange: “Mehr. Mehr. Mehr.”

(Mit gespielten Bedauern) Die Jahre vergehen. Frank geht Studieren - Wirtschaft, natürlich. Martha geht in die Kirche - häufiger denn je.

Und Thomas?

(gedehnt) Thomas geht in sich. Immer tiefer. Bis in ihm nichts mehr übrig ist als ein Spiegelbild seiner selbst.

1982 findet man ihn an seinem Schreibtisch. Herzinfarkt, sagten die Ärzte mit wichtiger Miene. “Überarbeitung”, murmeln die Geschäftsfreunde beim teuren Leichenschmaus. “Einsamkeit”, flüstert Martha in der leeren Kirche.

(sanft) Ein Herz, das zu voll war von sich selbst, um noch für etwas anderes Platz zu haben. Ist das nicht… poetisch?

Klink - so leise, so elegant glitt ich zurück in die Schachtel. Mission erfüllt, könnte man sagen. (bedeutungsvolles Schweigen) Wobei… nein, das verrate ich Ihnen später.

Aber genug von Thomas… (nachdenklich)


Erinnern Sie sich an mich?

Der Zylinder. Bisher habe ich von Thomas erzählt … und was ich für ihn tun konnte (gemeines Lachen)

Wissen Sie, was das Faszinierendste an der menschlichen Seele ist? Wie sie sich in verschiedenen Zeiten auf so… unterschiedliche Weise verkauft.

Der gläserne Spiegel

Ah, die Neunziger!

Eine neue Ära. Das Jahrzehnt der Poweranzüge und Mobiltelefone, groß wie Ziegelsteine. Die Zeit, als “Erfolg” zum neuen Gottesdienst wurde. Und mittendrin: Christine Weber, 28, MBA von der London School of Economics. Eine… (genüsslich) bemerkenswerte Dame. Karrierefrau mit - wie sie es nannte - “gläserner Decke im Visier”.

Ich traf sie 1994 auf einem dieser typischen Consulting-Teambuilding-Events. Monopoly als Metapher für Unternehmensstrategien - wie überaus originell.

Sie griff sofort nach mir.

Ihre manikürten Finger schlossen sich um mein poliertes Metall, als wäre ich ein lang ersehnter Preis. “Der Zylinder”, verkündete sie ihren Kollegen, “steht für Durchsetzungskraft. Zeit, dass eine Frau hier die Führung übernimmt.”

Da saß sie nun, perfekt gestylt in Armani. Eine Kriegerin im Businessanzug, bereit die Welt zu erobern. Ahnt nicht, dass sie tatsächlich nur dabei war, sich selbst zu verlieren.

Sie gewinnt an diesem Abend. Brillant, messerscharf, gnadenlos. Einer ihrer männlichen Kollegen - Klaus, graue Schläfen, Maßanzug, alte Schule - gratuliert ihr mit diesem speziellen Lächeln: “Nicht schlecht… für eine Frau.”

In diesem Moment sehe ich den ersten feinen Riss. Wie bei einem Kristallglas, das einen Schlag zu viel bekommen hat. Noch hält es. Noch funkelt es. Aber der Riss ist da. Und er wächst.

Am nächsten Tag kauft sie das Spiel. “Als Inspiration”, erklärt sie ihrer Freundin Sarah beim Lunch. Doch in Wahrheit wird es ihr Altar. Ihr Schrein. Der Tempel, in dem sie Nacht für Nacht ihr eigenes Ego anbetet.

Die Jahre vergehen wie Spielzüge auf dem Brett des Lebens. Christine steigt auf. Junior Partner. Senior Partner. Manchmal streicht sie gedankenverloren über die kleine Zylinder-Anstecknadel an ihrem Revers. “Mein Glücksbringer”, erklärt sie mit diesem neuen, geschliffenen Lächeln.

Ein Lächeln, das mit jeder Beförderung härter wird. Kälter. Wie Diamanten.

Sarah trifft sie im Winter ‘98 zum Lunch. Ihre beste Freundin aus Jugendtagen leitet inzwischen die Notaufnahme im städtischen Krankenhaus, engagiert sich in der Gemeinde. Zwischen Salat und Perrier stellt sie die Frage: “Ist es das wert, Christine? Die 80-Stunden-Wochen? Dass du nicht mehr in den Gottesdienst kommst? Dass wir uns so selten sehen?”

Christine nippt an ihrem Mineralwasser. “Gott hilft denen, die sich selbst helfen”, sagt sie. Perfekt artikuliert. Perfekt selbstgerecht.

Tja, dann kommt 2001. Der große Crash. Christines Firma war… nun, sagen wir, kreativ in der Buchhaltung. Der Skandal ist spektakulär. Die Aktionärsklagen sind es auch. Dreißig Milliarden Dollar - einfach weg.

Wie Spielgeld.

Sie überlebt es, natürlich. Solche wie sie überleben immer.

Ein Jahr später wird sie Partnerin in einer noch größeren Firma. Mit noch höherem Gehalt. Mit noch mehr… Christine. Mit noch weniger… Seele.

Das Monopoly-Spiel steht heute in ihrer Penthouse-Wohnung. Vitrine. Designerbeleuchtung. Manchmal, spätabends, nimmt sie mich heraus. Dann sitzt sie da, den kleinen Metallzylinder zwischen den Fingern, und starrt mich an.

Ihre Augen… Ich habe viele leere Augen gesehen, aber ihre… Sie sind wie geschliffenes Glas. Wie polierte Obsidianflächen.

Schwarz. Glänzend. Und tot.

Manchmal, wenn das Licht der Designerlampen sich darin spiegelt, sehe ich ihn: Den ganzen Horror. Eine perfekt geschliffene Leere, in der sich der Erfolg tausendfach bricht wie in einem kafkaesken Spiegelkabinett. Jede Reflexion zeigt eine weitere Version ihrer selbst - die Partnerin, die Gewinnerin, die Macht-Hungrige - aber keine davon ist echt.

Keine davon lebt.

Es sind nur Echos in einem gläsernen Sarg, den sie ihr Leben nennt.

Eines Abends - ihr Blick fällt gerade auf das Rennauto in der kleinen Schachtel - bemerke ich ein schwaches Flackern in der spiegelnden Leere. Wahrscheinlich nur ein Echo dessen, was einmal ihre Seele war. Dann schaut sie wieder auf mich und es verschwindet so schnell wie ein Atemhauch auf kaltem Glas.

Die perfekte Reflexion des Erfolgs - und dahinter? Nichts als der Abgrund einer Frau, die sich selbst zu ihrem eigenen Gott poliert hat.

Klink

Zurück in die Schachtel. Sanft. Fast zärtlich.

Die Besten sind immer die, die nicht merken, dass sie verlieren, während sie gewinnen.

Die ihren eigenen Tod nicht bemerken, während sie erfolgreich weiterleben.

Aber genug von den Neunzigern.

Sie fragen sich vielleicht, was aus mir geworden ist? Nun, die Zeiten ändern sich. Die Menschen auch. Nur ihre… sagen wir mal, Schwächen bleiben die gleichen.

Die perfekte Inszenierung

Jan.

Ein Name wie ein Hashtag. Kurz. Prägnant. Bedeutungslos.

Lassen Sie mich von diesem jungen Mann erzählen. So modern. So influencersque. So wunderbar oberflächlich - und doch bis in die Tiefe seiner geschönten Seele selbstverliebt.

Ich fand ihn vor nicht einmal drei Jahren. Oder besser: Er fand mich. In einem dieser “Vintage Lifestyle Stores” in Berlin-Mitte lag ich zwischen handgeschöpftem Recycling-Papier und überteuerten Vinyl-Platten. Authentisch inszenierte Nostalgie für die Generation Instagram.

“Perfect aesthetic!”, rief er beim Anblick des Spiels. Seine Augen fixierten sofort den Zylinder. “Das wird viral gehen!”

Jan ist ein “Creator”. 157K Follower auf Instagram, 230K auf TikTok. Sein Content? “Authentic Living”. Ein charmantes Paradox, denn sein authentisches Leben besteht aus geliehenen Uhren, gemieteten Sportwagen und sehr, sehr vielen Filtern.

Nicht nur über seinen Fotos.

Auch über seiner Seele.

Das Monopoly-Spiel - und ich - werden Teil seiner “Old Money Aesthetic”-Serie. Er drapiert mich zwischen leeren Vintage-Champagnerflaschen und Zigarren, die er sich für das Shooting geliehen hat.

“Der Zylinder steht für Klasse”, erklärt er seinen Followern mit dieser wunderbaren Ahnungslosigkeit. “Für echte Authentizität. Für… mich.”

Oh Jan. Süßer, dummer Jan.

Wenn er nur wüsste, wie recht er damit hat. Der Zylinder steht tatsächlich für… ihn. Für diese perfekt polierte Leere, die er sein Leben nennt. Für diesen Abgrund aus Selbstinszenierung, in den er mit jedem Post ein Stück tiefer rutscht.

Die Ironie ist köstlich. Da inszeniert er alte Werte, während er seine Seele an den Algorithmus verkauft. Trends statt Tiefgang. Follower statt Freundschaft. Likes statt Liebe.

Eine Million Follower.

Zwei Millionen.

Drei.

Natürlich helfe ich ein wenig nach. Ein dezenter Algorithmus-Schub hier, ein kleiner Viral-Moment da. Die Menschen sind so wunderbar berechenbar, wenn man ihre Schwächen kennt.

Und Jan?

Jan verschlingt den Erfolg wie digitales Kokain. Gierig. Süchtig. Mit jedem Like ein bisschen leerer.

“Sei einfach du selbst!”, predigt er in seinen Storys. “Folge deinem Herzen!” Tausende nicken. Keiner bemerkt die bittere Ironie: Ein Mann, der sein Selbst für den Ruhm verkauft, predigt Authentizität.

Nachts, wenn die Ring-Lights ausgehen, sitzt er in seinem “Content Creation Space” - zehn Quadratmeter, gemietet für 3000 Euro pro Monat. Der blaue Schein seines MacBooks wirft Schatten auf sein Gesicht wie digitale Gefängnisgitter. Dann starrt er auf seine Analytics. Plant den nächsten Post. Den nächsten Fake. Die nächste Version seiner selbst.

Und ich gönne es ihm! (lacht)

Sein Erfolg ist mein Erfolg. Seine Leere meine Freude.

Gestern postete er ein neues Foto. Er sitzt in seinem gemieteten Penthouse, im Hintergrund der beleuchtete Fernsehturm. In seiner Hand hält er mich in perfekter Position in die Kamera. “#blessed”, schreibt er darunter. “#authenticity #oldmoney #success”

Die Kommentare explodieren. Tausende Herz-Emojis. Hunderte “So inspiring!” Ich bin so begeistert, ich möchte mich am liebsten selbst abklatschen.

Dann, um 3 Uhr morgens, dieser eine Post: Ein Selfie im Badezimmer. Das Licht zu grell, die Augen zu müde für Filter. Er hält das Monopoly-Spiel wie einen Rettungsring. “Sometimes I miss the old times. Playing board games with real friends. Being… real.”

Plötzlich bin ich hellwach.

Der Post bleibt nur zwei Minuten online. Dann löscht er ihn hastig. Nur ich habe es gesehen - dieses letzte, verzweifelte Flackern einer erstickenden Seele, die sich selbst zum Gott gemacht hat.

Am nächsten Morgen ist sein Feed wieder perfekt. Seine Augen im Blaulicht des Smartphones leerer denn je. Seine Posts hungriger. Seine Selbstinszenierung makelloser.

Perfekt.

Klink

Ja, wir kommen zum Ende dieser kleinen Episode, doch diesmal gleite ich noch nicht zurück in die Box. Jan und ich, wir sind noch nicht fertig miteinander. Seine Follower-Zahlen steigen täglich. Seine Menschlichkeit schwindet stündlich.

Ein perfekter Austausch, finden Sie nicht?

Ach, diese wunderbare neue Generation! (sanft) So besessen von sich selbst. So hungrig nach Bestätigung. So wunderbar… verloren.

Aber ich schweife ab. Wollen Sie wissen, was mit all meinen kleinen Projekten am Ende passiert? Wohin die Reise für Thomas, Christine und - bald - auch Jan führt?

Kommen Sie näher. Ich verrate es Ihnen…

Ah, Sie sind wieder da!

Ich nehme an, Sie wollen wissen, wie meine “Erfolgsgeschichten” enden?

(böses Lachen)

Na, dann kommen Sie mal ran. Heute verrate ich Ihnen ein letztes, köstliches Geheimnis…

Die Tür war immer offen

KLINK

(Das Geräusch hallt nach. Anders als sonst. Dunkler. Tiefer.)

Wissen Sie, was das Köstlichste an der ganzen Sache ist?

Die Tür war nie verschlossen.

Nie.

Thomas hätte jederzeit aufstehen können.

Einfach aufstehen und gehen. Ohne zurückzublicken oder sich umzudrehen. Zurück zu seiner Martha. Zurück zu seiner Gemeinde. Zurück zu… (leises, böses Lachen) nun ja, Sie wissen schon zu wem. Ich weiß, dass sie alle gewartet haben, sie warten immer…

Christine?

Die Tür ihrer gläsernen Zelle stand sperrangelweit offen. Ein Leben lang. Ein Schritt hätte genügt, hinaus aus der Zelle. Ein echtes Gespräch mit Sarah. Vielleicht nur ein Gottesdienst-Besuch. Der Feind schläft nicht, er schickt Menschen und Umstände! (hämisches Kichern) Ein einziger Schritt aus dem Spiegelkabinett ihrer Selbstliebe hätte reichen können.

Und Jan?

Oh, süßer, dummer Jan… Eine gelöschte App hätte reichen können. Ein ausgeschaltetes Handy. Ein Moment echter Stille, in der er IHN hätte hören können. Denn der Feind hat gerufen. Er ruft immer. Er hat sich die Fingerknöchel wundgeklopft, um Jan zu wecken.

Aber sie hören nicht.

Sie KÖNNEN es nicht.

Denn sehen Sie - und jetzt kommt das wirklich Geniale an meinem… nennen wir es “Geschäftsmodell”: Ich muss gar nichts tun. Keine Gewalt. Keine Drohungen. Keine plumpe Annäherung.

Ich muss nur da sein. Blank poliert. Einladend.

Und warten.

Sie kommen von ganz allein. Greifen nach mir. Setzen sich mir aus. Erliegen mir. Und machen sich selbst zu Göttern ihrer kleinen Welten.

Ich muss nur da sein.

Wissen Sie, was mein Lieblingswort ist?

“Ich.”

Dieses winzige Wort. So klein. So mächtig. So… tödlich.

“ICH bin der Beste.”

“ICH habe es verdient.”

“ICH bin authentisch.”

“ICH. ICH. ICH.”

Mit jedem “Ich” mauern sie einen weiteren Stein in die Wände ihrer selbstgebauten Zellen. Mit jedem “Ich” wird ihr Herz enger. Mit jedem “Ich” entfernen sie sich einen Schritt weiter von… (gedehnt, genüsslich) nun, Sie wissen schon von wem.

Das Beste daran?

Sie merken es nicht einmal. Sie denken, sie seien frei. Erfolgreich. Authentisch. Ganz sie selbst. Während sie in Wahrheit nur eines sind:

Verloren.

Denn in einem haben sie recht: Sie sind ganz sie selbst.

PAUSE

(leise, fast zärtlich) Soll ich Ihnen jetzt noch ein letztes Geheimnis verraten?

Ich bin nicht der große Verführer, für den Sie mich vielleicht halten. Klar, manchmal ist Verführung notwendig und ich beherrsche diese Kunst in Perfektion. Denken Sie nur an mein Meisterstück, damals unter dem Baum. Ich war da, sie kam… und der Rest ist, wie man sagt, Geschichte (hämisches Lachen).

Doch meistens bin ich nur… ein Spiegel. Ein simpler Spiegel für die dunkelste aller menschlichen Sünden: Die Selbstvergottung.

Jedes Mal, wenn eine Hand nach mir greift, sehe ich es in ihren Augen: Diesen Hunger. Diese… Bereitschaft. Sie WOLLEN sich selbst anbeten. Sie SEHNEN sich danach, ihr eigener Gott zu sein.

Ich? (amüsiertes Lachen) Ich halte ihnen nur den Spiegel hin. Ich bestärke sie nur in dem, was sie ohnehin schon sind. Ich…

Oh.

(plötzlich sehr leise) Psst… jetzt gerade, während Sie diese Zeilen lesen, greift wieder jemand nach mir.

Nach dem Zylinder. Nach Erfolg. Nach Macht. Nach seinem EIGENEN Königreich.

Nach der Herrschaft über ein Leben, in dem für … Sie wissen schon, wen ich meine, kein Platz ist.

Nur noch ICH und MEIN und MEINS. Nur noch Selbstsucht, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, selbst, selbst, selbst … diese köstliche, alles verzehrende Selbstliebe.

(Lachend) Ich liebe sie, diese Menschen!

(Pause)

(Herablassend, siegessicher) Und weißt du, was das Faszinierendste ist?

(Pause)

Du hast meine Geschichte gelesen. Du kennst jetzt mein Geheimnis. Du weisst, was der Zylinder tatsächlich ist. Dieser kleine, harmlose, glänzende, verlockende Zylinder…

Und trotzdem…

…wirst auch du nach mir greifen.

Früher oder später.

Alle tun es.

KLINK


© JesusJournal