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Wenn wir das Licht nicht sehen

Eine zufällige Begegnung im Zug wird zu einem tiefen Gespräch über Glauben und Verlust. Als ein trauernder Witwer einen Grundschullehrer nach seinem Gottvertrauen fragt, entsteht ein bewegender Dialog über Licht in der Dunkelheit.

„Glauben Sie tatsächlich an Gott?“

Die Frage kommt so unvermittelt, dass Tobias Thaler beinahe seinen Coffee to go verschüttet. Er sieht von seinen Schularbeiten auf: bunte Blätter mit Kinderzeichnungen zum Thema „Wofür ich dankbar bin“. Eine seiner Schülerinnen aus der 4b hatte ihre verstorbene Oma als Engel gemalt, mit Flügeln und einem strahlenden Lächeln.

Der Mann ihm gegenüber wirkt erschöpft, in der Hand hält er ein zerknittertes Taschentuch. Mit geröteten Augen starrt er auf genau diese Zeichnung.

Tobias legt seinen Stift beiseite. „Ja“, sagt er schlicht, „ich glaube an Gott.“

„Auch wenn nichts einen Sinn ergibt?“ Die Stimme des Mannes zittert. Er knüllt das Taschentuch in seiner Hand noch fester. „Auch wenn …“ Er verstummt, sein Blick weiter auf die Engelzeichnung gerichtet.

„Sie haben jemanden verloren“, sagt Tobias leise. Es ist keine Frage.

„Meine Frau.“ Der Mann schluckt. “Sie hat unterrichtet. Wie Sie. Religionslehrerin.” Ein schiefes Lächeln zieht über sein Gesicht.

„Ihr ganzes Leben lang hat sie anderen von Gott erzählt. Und am Ende …“ Seine Stimme wird bitter. “Am Ende hat sie drei Monate lang gebetet. Jeden Tag. Aber Er hat nicht geantwortet.“

Tobias schweigt. Er weiß, dass es für solchen Schmerz keine schnellen Antworten gibt.

„Wissen Sie, was das Schlimmste ist?“ Der Mann sieht zum ersten Mal direkt in Tobias’ Augen. “Sie hat bis zum letzten Atemzug geglaubt. Während ich daneben saß und zusehen musste, wie ihr Glaube sie nicht rettet.“

Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Die Waggons ächzen leise, während sich die massiven Betonwände eines Tunnels näher und näher heranschieben. Eine ältere Dame auf der anderen Seite des Ganges greift nervös nach ihrer Handtasche. „Ich hasse diese Dunkelheit“, murmelt sie.

„Wissen Sie“, sagt Tobias nachdenklich, „vielleicht ist es wie mit diesem Tunnel. Man weiß, dass es ihn gibt. Man weiß auch, dass er kommt. Und dennoch erschrecken wir und fühlen uns allein und haben Angst.“

Der Mann starrt ihn an. „Und was“, fragt er leise, „was ist, wenn das Licht am Ende nicht kommt?“

Die Dunkelheit verschluckt seine Worte. Im schwarzen Glas des Fensters spiegeln sich ihre Gesichter.

Ihre Blicke begegnen sich. Tobias’ Kehle wird eng, dieser bodenlose Schmerz in den geröteten Augen, diese verzweifelte Suche nach Antwort.

Beide schweigen.

Dann sagt Tobias leise: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Ihre Frau etwas gesehen hat, was wir beide gerade nicht sehen können. Und vielleicht … vielleicht war ihr Glaube nicht blind, sondern klarer als unserer.“

Er überlegt, wie er es sagen soll.

„Vielleicht hat sie viel mehr dem vertraut, der von sich sagt: ‚Ich bin das Licht.‘“



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