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Gelbe Markierungen

Die Geschichte fordert uns heraus, Evangelisation neu zu denken: nicht als Programm, sondern als lebendiges Zeugnis, das weiterwirkt, selbst wenn wir den Erfolg nicht sehen. Könnten auch deine “Niederlagen” in Gottes Hand zu etwas Größerem werden?

Ekko Kuper wirft einen letzten Blick auf den Lebenslauf, während wir das Bewerbungsgespräch beenden.

Draußen vor der Tür wartet schon der nächste Kandidat - ein junger Mann mit Tattoos am Hals und nervösem Blick. Ich hatte ihn gesehen, als ich mir vorhin einen Kaffee geholt hatte.

“Hier, wir haben noch drei Bewerbungen für die Schicht. Der nächste sitzt schon draußen.” Ich lege den Stapel auf Ekkos Schreibtisch und deutete auf die gelben Markierungen. “Die Personalabteilung hat sie alle markiert - Vorstrafen, Drogenentzug, unvollständige Ausbildung.” Ekko nimmt die oberste Mappe, ein schelmisches Grinsen zieht über sein Gesicht: “Genau die Leute, nach denen ich suche.”

Manchmal kann mein Chef mich wirklich wahnsinnig machen.

Ich schüttele den Kopf. “Vorhin hatten wir einen, der war perfekt qualifiziert. Warum willst du ausgerechnet diese… problematischen Typen?”

“Du weißt warum, wir haben schon öfter darüber gesprochen.”

“Versteh mich nicht falsch, Ekko”, ich ringe um Worte, “ich respektiere deinen Glauben. Aber wir sind eine Kugellagerfabrik, kein Resozialisierungsprogramm.” Draußen flucht der tätowierte Bewerber laut, als er seinen Kaffee verschüttet. “Siehst du? Genau das meine ich. Die Leute hier sind nervös wegen der ‘besonderen Mitarbeiter’, die du ständig einstellst.”

Ekko lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Ernst sieht er mich an und ich spüre: auch er ringt um Worte.

“Schau aus dem Fenster”, fordert er mich auf. Ich blicke auf den Parkplatz, wo Mitarbeiter der Morgenschicht zu ihren Autos gehen. “Siehst du Hermann dort? Den mit dem Humpeln?” Natürlich kenne ich Hermann. Ex-Alkoholiker, seit zwei Jahren bei uns. “Er hat gestern seinen Sohn von der Schule abgeholt. Zum ersten Mal seit Jahren durfte er das.”

Ich schlucke schwer. Natürlich freut es mich für Hermann. Aber die Erinnerung an meinen Bruder Thomas und seine gebrochenen Versprechen brennt immer noch. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn, wie er an Weihnachten vor drei Jahren auf der Türschwelle stand, nüchtern, mit einem Geschenk für Mama. “Diesmal schaffe ich es”, hatte er gesagt. Eine Woche später fand ich ihn bewusstlos in seiner Wohnung, umgeben von leeren Flaschen. Ich beobachte, wie Ekko aufsteht.

“Weißt du, warum ich diese Firma übernommen habe?” Ich schüttele den Kopf, obwohl ich die Geschichte kenne. “Mein Vater hat sie aufgebaut. Er war ein strenger Mann. Perfektionist. Hat nur die Besten eingestellt.”

Langsam nicke ich mit dem Kopf. Ich weiß, was jetzt kommt.

“Mich hätte er niemals eingestellt.”

Wieder nicke ich. Ich kenne Ekkos schwierige Vergangenheit.

“Jeder hat eine zweite Chance verdient, meinst du nicht?” Ich spüre Ekkos Blick.

“Verdient vielleicht”, sage ich leise. Der bittere Geschmack jahrelanger Enttäuschung liegt mir auf der Zunge. Wieviele Chancen hatte ich Thomas gegeben? “Aber weißt du, ich bin dein Personalleiter und meine Aufgabe ist es, die Interessen der Firma zu schützen.” Bedeutungsvoll schaue ich auf die drei Bewerbungsmappen, die auf dem Schreibtisch liegen – alle mit “gelben Markierungen”.

Ein Teil von mir will Ekko ja verstehen, will glauben, dass es funktionieren kann. Aber die Zahlen lügen nicht: höhere Fluktuation, mehr Fehltage, geringere Produktivität. Ich kann meine Bedenken nicht einfach beiseiteschieben, auch wenn Ekkos Absichten gut sind.

Wieder hören wir ein unterdrücktes Fluchen aus dem Flur. Ekko nickt mir zu, ein Lächeln im Gesicht.

“Ich könnte sonntags in die Kirche gehen und schöne Lieder singen. Und es dabei bewenden lassen. Oder ich kann dort, wo Gott mich hingestellt hat, etwas bewirken.” Er zuckt mit den Schultern. “Man braucht keinen Reisepass, um Missionar zu sein. Nur offene Augen und ein offenes Herz.”

Er nimmt die Bewerbungsmappe des tätowierten Mannes. “Sollen wir ihn reinrufen?” Ich nicke mechanisch.

Der tätowierte Bewerber kommt herein, man sieht den frischen Kaffeefleck auf seiner Hose. Seine Hände zittern, als er Ekko und mir die Hand gibt. Tattoos ranken sich seinen Hals hinauf.

Routiniert stellen wir die üblichen Fragen zu Berufserfahrung und Qualifikation. Doch der Mann wirkt abgelenkt, sein Blick huscht immer wieder zu mir herüber. Als würde er versuchen, sich an etwas zu erinnern.

“Entschuldigung”, unterbricht er sich schließlich mitten in einem Satz über seine letzte Arbeitsstelle. “Aber Sie… Sie erinnern mich wahnsinnig an jemanden.”

“Können wir uns auf das Gespräch konzentrieren?”, frage ich schärfer als beabsichtigt.

“Klar, tut mir leid.” Er nimmt einen Schluck Wasser. Sein Blick bleibt an mir hängen. “Waren Sie… sind Sie vielleicht verwandt mit Thomas Schäfer?”

Die Luft scheint plötzlich sehr dünn zu werden.

“Er war mein Mentor im Reha-Zentrum. Vor zwei Jahren.” Der Mann lächelt zum ersten Mal. “Hat mir echt aus der Scheiße geholfen. Sorry für den Ausdruck. Aber ohne ihn…” Er zuckt mit den Schultern. “Sie sehen ihm unheimlich ähnlich.” Fassungslos schaut er mir jetzt direkt ins Gesicht.

Ekko sitzt still da, sein Blick ruht auf mir.

“Wie geht es ihm?”, fragt der Mann. “Wir haben uns aus den Augen verloren, nach…” Seine Stimme verliert sich.

“Er hat es nicht geschafft”, sage ich leise. Die Worte schmecken bitter.

Der Mann nickt langsam. “Das tut mir leid. Echt. Aber wissen Sie was? Er hat anderen geholfen, es zu schaffen. Mir zum Beispiel. Das zählt doch auch was, oder?”

Ich starre auf die gelben Markierungen in seiner Akte. Denke an Thomas. An Hermann. An all die anderen.

“Ja”, sage ich schließlich. “Das zählt auch was.”


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