Unter aller Würde
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“Die Wahrheit hat sich nicht verändert. Nur die Zeit.” Die Geschichte verbindet den persönlichen Konflikt eines Abgeordneten mit einer Erinnerung an den Scopes-Prozess von 1925, beide vereint durch die zeitlose Frage: Woher kommt die menschliche Würde?
Vor zwei Jahren hat er mich gefunden. Ich lag in der Auslage eines Antiquitätengeschäftes und ich wusste sofort, dass er mich kaufen würde.
Man bekommt so ein Gefühl dafür, wenn man schon so lange unter Menschen ist wie ich…
Seitdem trägt er mich jeden Tag, einen Siegelring mit einem Kreuz.
Heute ist er nervös. Ich spüre seinen Herzschlag bis in den Finger hinein. Ihm gegenüber sitzt eine Frau in einem dunklen Kostüm, ihre Stimme ein eindringliches Flüstern.
“Du kannst nicht ernsthaft für sie stimmen. Sie stellt sich über Gottes Wort.”
Seine Hand verkrampft sich. Als einer der wenigen konservativen Juristen im Ausschuss weiß er, was seine Stimme bedeutet. Seine Karriere, seine Chancen auf eine eigene Berufung - alles steht auf dem Spiel.
“Die Trennung von Kirche und Staat ist wichtiger als meine persönlichen Überzeugungen.”
“Was ist mit dem Schutz des ungeborenen Lebens?” Sie zieht ein vergilbtes Foto aus ihrer Tasche - sie beide vor dem Gemeindezentrum, Plakate in den Händen. “Weißt du noch? Unser erstes Pro-Life-Projekt. Diese Richterin… ihre Position ist klar: das Leben beginnt nicht mit der Empfängnis. Ich sehe jeden Tag in der Beratung, was diese Denkweise anrichtet. Schwangerschaftsabbrüche sind nicht nur Statistiken, sie sind tausendfaches Leid. Und das weißt auch du nur zu gut.”
Mein Träger dreht mich langsam an seinem Finger, eine Geste, die er oft macht, wenn er nachdenkt.
“Sie ist die qualifizierteste Kandidatin,” sagt er schließlich. “Ihre juristische Expertise ist unbestritten.”
Die Frau schüttelt den Kopf. “Expertise ohne moralischen Kompass ist gefährlich. Haben wir nichts aus der Geschichte gelernt? Wie oft haben Menschen ihre eigenen Überzeugungen über Gottes Wort gestellt? Du wählst eine Frau, die kein Problem damit hat, das ungeborene Leben seiner Würde zu berauben.” Mühsam hält sie die Tränen zurück.
Ich spüre einen Ruck durch seinen Körper gehen. Die aufgeladene Atmosphäre im Raum, diese Spannung zwischen Glauben und Gesellschaft - sie weckt eine alte Erinnerung in mir. Wie ein Echo aus der Vergangenheit steigt eine Szene in mir auf, die ich vor genau 100 Jahren miterlebte:
1925, Dayton, Tennessee, USA. Die Schlagzeilen verkünden den “Prozess des Jahrhunderts”. Ein Lehrer namens Scopes steht vor Gericht, weil er die Evolutionstheorie unterrichtet hat und das war laut Gesetz verboten.
“Wie können Sie die Heilige Schrift anzweifeln?” fragt ein grauhaariger Mann und ich spüre seinen Herzschlag.
“Es geht nicht um Zweifel,” antwortet sein Gegenüber. “Es geht um das Recht, zu lehren, was die Wissenschaft entdeckt hat.”
“Wissenschaft ohne Gott führt ins Verderben!” Sein Puls steigt. “Die Bibel lehrt uns, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde. Mit einzigartiger Würde! Wenn wir zulassen, dass Kinder glauben, sie stammen von Affen ab, wie sollen sie dann ihre gottgegebene Würde erkennen?”
Die Erinnerung verblasst, und ich bin wieder im Hier und Jetzt. Mein Träger sitzt schweigend da, seine Hand zittert leicht. Draußen zieht eine Wolke vor die Sonne, taucht den Raum für einen Moment in gedämpftes Licht.
“Nach Gottes Ebenbild,” murmelt er plötzlich, ohne zu wissen, woher dieser Gedanke kommt.
“Was meinst du?” fragt die Frau.
“Wenn wir anfangen zu entscheiden, wann ein Mensch würdig ist und wann nicht…” Seine Stimme versiegt.
“Dann verleugnen wir etwas Grundlegendes,” ergänzt die Frau.
“Dass jeder Mensch eine einzigartige Würde hat,” nickt er. “Von Anfang an. Nicht weil wir es so definieren, sondern weil…” Er sucht nach Worten.
“Weil die Bibel es sagt. Wir sind nach Seinem Bild geschaffen,” vollendet sie seinen Gedanken.
Er blickt auf mich, den Ring an seinem Finger, als könnte ich ihm Gewissheit geben. “Ja,” sagt er schließlich. “Genau das.”
Die Frau lächelt, ihre Augen glänzen. “Du wirst gegen sie stimmen?”
“Ich werde gegen sie stimmen.” Seine Stimme klingt jetzt fest und sicher. “Auch wenn sie mich danach zerreißen.”
Er streicht mit dem Daumen über mein Kreuz. Ich habe diesen Moment schon unzählige Male erlebt – Menschen, die für die Wahrheit einstehen, auch wenn die Welt sich dreht. Vor hundert Jahren verteidigten sie die Bibel gegen die Wissenschaft. Heute verteidigen sie mit der Bibel das ungeborene Leben.
Die Wahrheit hat sich nicht verändert. Nur die Zeit.