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Der Hohepriester der Belanglosigkeit

Im Studio von Radio Sonnenschein wird ein Morgengebet zur emotionalen Reise. Ein einfaches Morgengebet berührt das Herz eines abgeklärten Moderators und führt ihn zu den Wurzeln seiner Kindheit.

Jeden Morgen sitze ich hier, im heiligen Tempel der guten Laune - Studio 3 von Radio Sonnenschein.

Die rote “ON AIR”-Lampe ist mein Leuchtfeuer, das Mischpult mein Altar, an dem ich täglich meine Auftritte als Hohepriester der Belanglosigkeit zelebriere. Schlagzeilen, Wetter, Verkehr - alles verpackt in knackige Pointen und garniert mit einem Augenzwinkern. Mein Coffee-to-go verströmt seinen verführerischen Duft, das Weihwasser des aufgeklärten Menschen.

Sarah, unsere neue Praktikantin, reibt sich die müden Augen. Ich erkenne diesen Blick - vor zehn Jahren war ich selbst der Neue, der sich durch die erste Morgenschicht kämpfte. Mit einem Lächeln winke ich sie herein und schiebe ihr meinen Coffee-to-go zu. “Erste Regel im Radio: Praktikanten überleben nur mit Koffein.”

Die vertraute Melodie unserer Morgensendung schallt durch die Boxen. Zeit für die Tausend-Euro-Frage des Tages. Die ersten zwei, die ans Telefon gehen, sind wie immer die Generalprobe, der dritte gewinnt. Letzte Woche hatte einer “Wo ist mein Smartphone?” gebrüllt und tausend Euro gewonnen. Davor ein Mädchen, das “Schatz, das Katzenklo stinkt!” gerufen hatte. Die Hörer lieben sowas. Je peinlicher, desto besser. Hauptsache unterhaltsam. Meine Finger tanzen über die Tastatur, während ich die erste Nummer wähle.

“Guten Morgen, hier ist Radio Sonnenschein! Was haben Sie heute Morgen nach dem Aufwachen als erstes gesagt?”

“Hey, bin ich auf Sendung?”

“Nein, Sie sind im Kino. Sorry, Mann, legen Sie sich wieder hin. Und Tschüss…”

Das nächste Lämpchen blinkt, die Leitung steht.

“Guten Morgen, hier ist Radio Sonnenschein! Was haben Sie heute Morgen nach dem Aufwachen als erstes gesagt?”

Ein kurzes Schnaufen ist zu hören. “Wie spät ist es überhaupt?”

“Zeit für einen Kaffee, würde ich sagen. Aber leider nicht für tausend Euro - Sie sind heute die Nummer zwei. Sorry.”

Das dritte Lämpchen beginnt zu blinken. Showtime. Mein Blick wandert zu Sarah, die erwartungsvoll nickt. Tausend Euro warten auf den perfekten peinlichen Moment. Ich räuspere mich, setze meine Radiostimme auf: “Guten Morgen, Radio Sonnenschein! Sie sind heute einer von drei Menschen, die wir anrufen. Verraten Sie uns Ihre ersten Worte heute früh?”

Eine ruhige, klare Stimme antwortet ohne zu zögern: “Danke, lieber Jesus, dass ich in dieser Nacht so gut geschlafen habe.”

Ich starre auf das Mischpult. Mein Finger schwebt über dem Einspieler für die Gewinnfanfare. Diese Worte klingen so authentisch, so unschuldig.

So echt.

Sarah, meine Praktikantin, hat aufgehört, in ihrem Kaffee zu rühren. Die Stille im Studio wird greifbar.

Meine Radiostimme ist weg. Einfach weg. Diese Worte… Großmutter hat sie jeden Morgen gesprochen, wenn sie mich weckte. Der Duft von frischen Brötchen, ihre sanfte Stimme - “Danke, lieber Jesus…”

Wie lange habe ich nicht mehr daran gedacht?

Was mache ich jetzt? Ein Witz wäre deplatziert, ein “Halleluja” auch. Tausend Euro für ein Morgengebet - irgendwie fühlt sich das falsch an. Oder gerade richtig?

Sarah schaut mich erwartungsvoll an, während ich nach den richtigen Worten suche. Fragend zieht sie die Augenbrauen hoch. Die Stille zerrt an meinen Nerven. Ich bin Moderator, verdammt, ich sollte wissen, was zu sagen ist. Aber diese Erinnerung lähmt mich. Hastig drücke ich die Taste für den Werbeblock. “Kleine technische Störung”, nuschel ich ins Mikro. “Wir sind gleich wieder für Sie da.”

Tausend Euro für ein Morgengebet. Ausgerechnet. All die albernen Antworten, die ich sonst großzügig belohne, und jetzt, wo zum ersten Mal jemand etwas wirklich Bedeutungsvolles sagt, fühlt es sich fast falsch an, dafür Geld zu geben.

Ich gebe Sarah ein Zeichen.

Später abends dann liege ich im Bett und starre an die Decke. Der Tag war lang, aber immer wieder höre ich diese ruhige Stimme, die von Jesus spricht.

Morgen früh werde ich wieder im Studio sitzen und gute Laune versprühen. Doch jetzt, kurz vor dem Einschlafen, flüstere ich die Worte meiner Großmutter. Nur um sie noch einmal so zu hören, wie ich sie damals hörte. Die Wärme zu spüren, die ich damals spürte.

Mein Magen zieht sich zusammen, als mir die Gottesdienste meiner Jugend einfallen. Dieses Fromm-Getue, diese Scheinheiligkeit, diese anderen, die immer wussten, was falsch war und was richtig war. Irgendwann bin ich nicht mehr hingegangen.

Ich verdränge den Gedanken. Denke wieder an meine Oma. An ihre weichen Hände, die nach Lavendelseife dufteten, wenn sie mir über das Gesicht strichen. An die Wärme ihrer Lippen auf meiner Stirn und das sanfte Kratzen ihrer Wollstrickjacke an meiner Wange. Dann kam immer dieser eine Moment: Ihr Daumen, der behutsam ein kleines Kreuz auf meine Stirn zeichnete.

Jeden Abend das gleiche Ritual, so verlässlich wie das Ticken ihrer alten Wanduhr.

Bei ihr war es einfach Liebe.

Ja, meine Oma hat oft von Jesus gesprochen.

Und ich kenne keinen Menschen, bei dem ich mich je geborgener gefühlt habe.



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