Ihre letzte Reise
Geschrieben von Jörg am .
In der Stille einer Bushaltestelle träumt eine Frau von der Heimkehr. Eine berührende Geschichte über Abschied, Hoffnung und die Reise ins Unbekannte.
Die alte Frau sitzt zusammengesunken auf der kalten Bank dieser einsamen Bushaltestelle weit draußen im Niemandsland.
Der Himmel ist in tiefes Violett getaucht und die ersten Sterne funkeln zaghaft am Himmel. Eine kalte Brise weht über den feuchten Asphalt und sie zieht ihren abgetragenen Mantel enger um sich. In den Händen hält sie eine alte, zerknitterte Fahrkarte, die sie immer wieder betrachtet wie einen wertvollen Schatz.
Weit entfernt hört man Autos fahren, es klingt wie ein melancholisches Lied, das die Stille um sie herum nur noch lauter macht. Immer wieder hebt sie den Blick und ihre Augen, alt und müde, blicken sehnsüchtig die Straße entlang, in der Hoffnung, dass der Bus bald kommen würde.
Die Zeit verstreicht. Immer wieder flackern Erinnerungen an vergangene Zeiten in ihrem Geist auf - die lachenden Gesichter ihrer Kinder, die warmen Umarmungen ihres längst verstorbenen Mannes, die unbeschwerten Tage ihrer Jugend. All das scheint nun so weit entfernt, als gehöre es zu einem anderen Leben an.
Ein leises Seufzen entweicht ihren Lippen, als sie die Fahrkarte noch fester umklammert. "Ich möchte weg", denkt sie, "weg von der Straße und endlich heim in meine Wohnung."
Die Dunkelheit kriecht langsam näher, und die Kälte wird intensiver.
Sie zittert.
Wann wird er endlich kommen?
Die Dunkelheit umhüllt das Hospiz-Zimmer, nur ein schwaches Licht schimmert durch das Fenster. Ihre Tochter sitzt am Bett, zärtlich betrachtet sie die Schlafende und hält sanft ihre Hand.
In den letzten Wochen hatte ihre Mutter oft von einem Bus gesprochen, der sie abholen würde. Sie hatte das nie wirklich verstanden, es als eine Marotte abgetan, doch heute spürt sie, es ist soweit.
Der Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter verändert sich.
Die Anspannung weicht einer tiefen Ruhe, und ein sanftes Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. Es ist, als ob sie etwas Wundervolles sieht, etwas, das ihrer Tochter verborgen ist.
Der Bus hält an, die Tür öffnet sich. Eine wohlbekannte Gestalt tritt heraus, ihr Gesicht strahlt eine unendliche Liebe und Güte aus, einladend hält sie der Frau an der Bushaltestelle die Hand entgegen: "Komm!"
Das Hospizzimmer scheint wärmer zu werden, die Hand ihrer Mutter fährt unruhig hin und her. Zärtlich greift sie danach.
Freudig springt die alte Frau an der Bushaltestelle auf, die zerknitterte Fahrkarte fest in der Hand, voller Kraft und Leben, und mit jugendlicher Anmut und einem freudestrahlenden Gesicht hüpft sie wie ein junges Mädchen in den Bus.
Die Tochter spürt, wie die Hand ihrer Mutter erschlafft.
Tränen steigen ihr in die Augen. Sie spürt, der Abschied ist da.
Die Türen des Busses schließen sich und die Frau an der Bushaltestelle ist nun an einen besseren Ort unterwegs, in die Wohnung, die Jesus selbst für sie vorbereitet hat.
Er ist gekommen, sie heimzuholen.
So, wie Er es versprochen hat:
Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich dann etwa zu euch gesagt, dass ich dorthin gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten? Und wenn ich einen Platz für euch vorbereitet habe, werde ich wieder kommen und euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.