Wer betet, ist nicht tot

Das Gebetsleben von Thorsten Wader, Teil 1: Ein Pastor macht eine Enthüllung. Thorsten erzählt von seinem Aufwachsen in einer religiösen Gemeinschaft und von den Ereignissen, die dazu führten, dass er ein zwiespältiges Verhältnis zum Beten hatte.

Jörg Peters hat uns erzählt, welchen Plan er hat, um sein Gebetsleben zu fördern. Ich hatte in dem Podcast erwähnt, dass mein Gebetsleben ganz anders ist. Ich hatte versprochen, davon zu berichten.

Mein Gebetsleben ist so: Ich bete nicht!

Nun wirst du sagen: „Das kann doch nicht wahr sein, dass ein Pastor nicht betet. Seine Gemeindeleitung würde ihn rausschmeißen!“ Das stimmt. Das würde sie tun! Aber sie hat es bisher nicht getan. Wie kommt das?

Ich muss etwas ausholen, um zu erklären, wie es dazu kommt.

Als ich im Bauch meiner Mutter war, hat sie mich schon mit in den Gottesdienst genommen. Als ich aus den Windeln war, ging ich zum Kindergottesdienst. Damals hieß das noch Sonntagsschule. Sobald ich mit den anderen Kindern singen konnte, habe ich mit dem Kindergottesdienst bei der Christvesper Heiligabend Lieder vorgetragen.

Das bedeutet, dass ich seit etwa 50 Jahren zu jeder Christvesper auf der Bühne eines Gottesdienstes gestanden habe.

In unserer Gemeinde gab es eine „Telefon Kurzpredigt“. Drei Anrufbeantworter standen im Keller des Gemeindehauses. Man konnte anrufen und bekam eine zweiminütige Andacht. Diese Andachten wurden von den Predigern und Pfarrern der Stadt Essen gehalten. Eine Art Vor-Internet-Podcast. Ich half unserem Pastor Gerd Engelhardt, die Aufnahmen zu machen. Als ich 16 Jahre alt war, fragte Gerd mich, ob ich auch Kurzpredigten sprechen wollte. Mit 16 fing ich also an zu predigen. Und ich fing auch an, Bibelarbeiten in der Jugendstunde zu halten.

Und wieder die Frage: wie kann es sein, dass er predigt und Bibelstunden hält und nicht betet?

Damals habe ich noch gebetet.

In den 1970er-Jahren gab es für die Kinder ein frommes Lied. „Lies die Bibel, bet jeden Tag, wenn du wachsen willst.“ Als ich dieses Lied in der Sonntagsschule lernte, war ich 4 Jahre alt. Ich konnte nicht lesen und hatte Angst, nie so groß zu werden wie mein Papi. Denn es heißt ja: lies die Bibel, wenn du wachsen willst.

Mit 4 Jahren wusste ich auch nicht genau, wie man betet. Also steckte ich in der Bredouille.

Das Bibellesen und Beten ist seitdem für mich immer mit dem schlechten Gewissen verbunden. Ich kann es zwar tun, aber es wird nicht reichen. Es wird nicht richtig sein.

Als ich Teenager wurde, bekam ich plötzlich eine unbändige Lust, Bibel zu lesen. Ich hatte vier verschiedene Bibelübersetzungen. Sie lagen auf dem Fußboden meines Zimmers, und ich verglich sie miteinander. Es gab zu der Zeit auch Bibelcomics – die habe ich verschlungen. Ich habe damals viel in der Bibel gelernt. Aber nicht, weil mir jemand gesagt hat, ich müsse Bibel lesen.

Ich nehme doch stark an, dass Jesus mich inspiriert hat.

Damals – in der Pubertät – stellten sich mir Fragen wie jedem Jüngling in dem Alter. Ich war einfach neugierig auf alles. Und die Bibeln standen und lagen eben immer bei uns herum, also nahm ich die als Info-Quelle.

Meine Freizeit fand in der Gemeinde statt. Ich habe all die frommen Floskeln gelernt, mit denen man betet.

Aber dann wurde mir beigebracht, dass ich unbedingt jeden Morgen, bevor ich aus dem Haus gehe, eine stille Zeit machen muss.

Das heißt: Beten und Bibellesen schon vor dem Frühstück. Sonst würde ich nicht richtig glauben. Nun hat es meinem Gott aber gefallen, mir einen Biorhythmus zu schenken, der für eine Stille Zeit am Morgen völlig falsch tickt.

Ich bin ein Morgenmuffel. Das bedeutet, dass ich bei der stillen Zeit immer eingeschlafen bin. Ich habe keine tiefen Erkenntnisse aus dem biblischen Wort gewonnen. Das Beten ist mir nicht gelungen. Nach 22 Uhr wäre Stille Zeit o. k. gewesen. Aber um es richtig zu machen, musste es ja vor dem Wachwerden sein.

Das hat mein schlechtes Gewissen gegenüber dem Bibellesen und Beten noch vertieft. Es hat halt nicht geklappt. Es fühlte sich immer so an, dass ich etwas falsch mache dabei. Und die eigene Lust am Bibellesen verflog auch.

Ich habe oft von Brüdern und Schwestern im Glauben, die so zwischen Ende 40 und Anfang 60 sind, gehört, dass es ihnen ganz ähnlich geht, wenn sie in einer pietistisch-evangelikalen Gemeinde aufgewachsen sind.

Alle kennen dieses Lied: „Lies die Bibel bet jeden Tag, wenn du wachsen willst.“ Und haben diesen „Stille-Zeit-vor-dem-Frühstück-Hype“ erlebt. Manche fanden es toll, und manche leiden bis heute darunter. Es ist wie ein Splitter in meiner Seele, der nicht weggeht, und manchmal entzündet sich die Stelle noch.

Das ist also meine Geschichte mit dem Effekt, dass ich nicht bete und bibellese.

Aber Jesus wäre nicht mein Herr, wenn er nicht eine Lösung für mich gefunden hätte.

Davon berichte ich morgen.

Liebe Grüße von Thorsten „Cliffhanger“ Wader.

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