Der innere See
"Kirchengemeinde nach Vandalismus geschlossen"
Michaels HĂ€nde zittern so stark, dass der Kaffee ĂŒberschwappt. Braune Tropfen fallen auf das weiĂe Tischtuch, ein Spritzer landet auf seiner Bibel. Die Nachricht auf seinem Smartphone verschwimmt vor seinen Augen, wĂ€hrend eine Welle heiĂen Zorns durch seinen Körper brandet.
Hastig beginnt er zu tippen: "Diese gottlosen Chaoten gehören alle..."
Dann hÀlt er inne. War das noch er selbst? Der Michael, der jeden Sonntag in der Gemeinde von NÀchstenliebe spricht?
Er dachte an Jesus, der sogar fĂŒr seine Peiniger gebetet hatte. Was trieb Menschen zu solchen Taten? Welche Verletzungen, welche Verzweiflung steckten dahinter?
Erschrocken legt er das Smartphone beiseite. Er konnte nicht einfach hier sitzen bleiben. Nicht mit dieser Wut im Bauch.
"Ich muss raus hier", murmelt er und schnĂŒrt seine Wanderschuhe. Weg von den Nachrichten, den Kommentaren, dem brodelnden Zorn in seiner Brust. Hinauf in die Berge, wo der Himmel nĂ€her scheint.
Den ganzen Tag ist er unterwegs. Erst als die Abendsonne die Gipfel in goldenes Licht tauchte, erreicht er den Bergsee. Die stundenlange Wanderung hatte ihm gutgetan - mit jedem Schritt war etwas von der morgendlichen Anspannung von ihm gewichen.
Michael atmet die klare Bergluft ein und lĂ€sst seinen Blick ĂŒber den See schweifen. Den ganzen Tag ist er gewandert, hat die Stille der Berge in sich aufgesogen wie ein Schwamm. Der See liegt vor ihm wie ein gewaltiger Spiegel, in dem sich der Himmel in vollkommener Klarheit widerspiegelt. Nicht die kleinste Welle krĂ€uselt die OberflĂ€che.
Er lÀsst sich auf einen Baumstamm am Ufer sinken und atmet tief durch.
Dieser Friede... er kennt ihn. So fĂŒhlt es sich an, wenn er morgens in der Stille seine Bibel liest.
Aus alter Gewohnheit zieht er sein Smartphone aus der Jackentasche.
Sofort springt ihm die Nachricht entgegen, die ihn am Morgen aus der Fassung gebracht hat. Michael schĂŒttelt den Kopf und steckt das Smartphone weg.
Hier am stillen See kommt ihm diese morgendliche Aufregung seltsam fremd vor. Fast unwirklich, wie ein schlechter Traum. Er beobachtet, wie ein Fischadler ĂŒber dem Wasser kreist, geduldig wartend. Die Spiegelung des Vogels auf der WasseroberflĂ€che ist gestochen scharf.
Der See ist wie ein gewaltiger Spiegel. Wie tief mag er sein?
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Die OberflÀche verrÀt nichts von den Geheimnissen der Tiefe. Ist es mit den Nachrichten nicht genauso? Sie zeigen nur die OberflÀche - Menschen, Konflikte, Ereignisse. Aber der wahre Kampf spielt sich in einer anderen Dimension ab.
Plötzlich stĂŒrzt der Fischadler herab.
Wie ein Pfeil durchbricht er die WasseroberflÀche. Kreise breiten sich aus, die klare Spiegelung des Himmels verschwimmt, wird unkenntlich und verzerrt.
Sekunden spĂ€ter erhebt sich der Vogel wieder, einen glitzernden Fisch in den FĂ€ngen. Mit krĂ€ftigen FlĂŒgelschlĂ€gen verschwindet er in Richtung des Waldes.
"Genau das passiert mit meinem Geist", durchfÀhrt es Michael.
Die Nachrichten sind wie dieser Fischadler, die in mein Bewusstsein drĂ€ngen und alles in Unruhe bringen. Sie stören meinen inneren Frieden. Stattdessen wĂŒhlen sie mich auf und vernebeln meinen Blick zum Himmel.
Ich sehe Feinde, wo Menschen sind. Menschen, die vielleicht selbst innerlich aufgewĂŒhlt sind, deren eigener See keine ruhige OberflĂ€che mehr kennt. Die Vandalen - sind sie nicht auch Suchende? Auf ihre eigene, verstörte Art?
Und durch die aufgewĂŒhlte OberflĂ€che meines eigenen Sees verliere ich den Blick fĂŒr die Tiefe.
Er wartet, bis sich das Wasser beruhigt hatte. Die Spiegelung wird wieder klar, der Himmel leuchtet aus der Tiefe des Sees.
Michael lÀchelt.
Dann erhebt er sich und macht sich auf den RĂŒckweg.
Er hatte eine wichtige Entscheidung getroffen - seinen inneren See wĂŒrde er von nun an besser vor Störungen schĂŒtzen.
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